Ein Boot kann eine Berührung vermieden aber sich trotzdem nicht freigehalten
haben.
Zusammenfassung des Falles: Zwei 7m-Kielboote S und P näherten sich einander auf einer Kreuzstrecke
mit etwa gleicher Geschwindigkeit bei 12 bis 15 Knoten Wind und geringer
Welle. S war leicht voraus. Als es etwa drei Bootslängen entfernt
waren, rief S "Wind von Steuerbord" und wiederholte dies bei
zwei Bootslängen Abstand. Aber P antwortete nicht und änderte
nicht den Kurs. In der in der Skizze gezeichneten Position 1 änderten
beide gleichzeitig den Kurs. S, in Befürchtung einer Kollision, luvte
scharf an, um zu wenden und dadurch den Schaden oder die Verletzung zu
minimieren, und P fiel scharf ab. Als S sah, dass P abfiel, fiel es ebenfalls
ab. P legte das Ruder so weit wie möglich nach Backbord und passierte
in zwei Fuß (0,6 m) Abstand hinter S. Es gab keine Berührung.
S protestierte wegen Verletzung von Regel 10.
Das Schiedsgericht entschied, dass P nicht Regel 10 verletzt hat. Dann
untersuchte es, ob S durch Luven und das plötzliche Abfallen Regel
16.1 oder 16.2 verletzt hat. Es kam zu dem Schluss, dass S das nicht tat,
nachdem es festgestellt hatte, dass dessen Kursänderung P nicht beeinflusste,
das auch dann eine so starke Kursänderung hätte vornehmen müssen,
wenn S nichts getan hätte. Der Protest von S wurde abgewiesen, S
ging in die Berufung.
Entscheidung Der Berufung wird stattgegeben. P wird wegen Verletzung von Regel 10 disqualifiziert.
Regel 10 verlangt von P, sich von S freizuhalten. Freihalten bedeutet mehr als
Berührung vermeiden, sonst würde diese Regel solchen oder ähnlichen
Wortlaut haben. Deshalb bedeutet die Vermeidung einer Kollision nicht notwendigerweise,
dass sich P freigehalten hat. Die Definition Freihalten in Kombination mit den
festgestellten Fakten legt fest, ob sich P regelkonform verhalten hat. In diesem
Fall ist die Schlüsselfrage durch die Definition vorgegeben, ob S seinen
Kurs segeln konnte, "ohne Ausweichmaßnahmen ergreifen zu müssen".
Die folgenden Überlegungen führten zur Beschlussfindung und Entscheidung
des Berufungsausschusses, dass P sich nicht frei gehalten hat und deshalb Regel
10 verletzt hat.
Die Kurse der Boote bei Beginn des Vorfalls: Sie waren auf Kollisionskurs,
was bedeutet, dass zumindest eines der Boote den Kurs ändern muss.
Der Abstand der Boote, als beide ihren Kurs änderten: Hätte nach
Position 1 kein Boot den Kurs geändert wäre der Bug von P in die
Leeseite von S geschlagen, nachdem die Boote noch etwa zwei Drittel ihrer
Bootslängen gefahren wären.
Die verbleibende Zeit bis zur Berührung: Als beide Boote den Kurs
änderten, blieb nur mehr ganz wenig Zeit bis zu einer möglichen
Kollision. Beispielsweise würde bei einer Geschwindigkeit von 5 Knoten
eines dieser Boote zwei Drittel seiner Bootslänge in 1,9 Sekunden zurücklegen,
bei 6 Knoten in 1,5 Sekunden.
Die Stärke der Kursänderung, die bei jedem Boot nötig ist,
um eine Kollision zu vermeiden: Diese nimmt zu, je näher die Boote sind.
Zum Zeitpunkt als P den Kurs änderte, war es nötig, das Steuer so
hart wie möglich nach Backbord zu legen, damit es das Heck von S in einem
Abstand von 0,6 m passiert. Zum selben Zeitpunkt wäre die Kursänderung,
die S hätte machen müssen um P bei unverändertem Kurs auszuweichen,
nahezu 90 Grad gewesen, da S hätte wenden müssen.
Die Zeit, die jedes Boot für die notwendige Kursänderung braucht:
Dieser Faktor ist von vielen anderen Faktoren abhängig, dem Bootsgewicht
und der Bootsgeschwindigkeit, der Unterwasserform des Rumpfes, der Größe
des Ruders, den notwendigen Handgriffen zur Segelbedienung sowie Wind und
Wellenbedingungen.
Als die Boote die Positionen 1 der Skizze erreichten, hielt sich P nicht mehr
klar von S. Eine Kollision drohte beinahe unvermeidbar, was durch die Tatsache
deutlich wird, dass P trotz hartem Ruderlegen nur 0,6 m am Heck von S passierte.
In dieser Position hatte S nicht die Gewissheit, dass P seine Zurufe gehört
hat oder sich vorbereitete, den Kurs zu ändern oder gar die Anwesenheit
von S bemerkt hat. Auch ist P über den Punkt hinausgesegelt, an dem es
hätte abfallen sollen, um die Zeit und den Weg zum Erreichen der Luvbahnmarke
zu minimieren oder einen Kurs, der nach taktischen Gesichtspunkten sinnvoll
gewählt wird. Aus all diesen Gründen war es S nicht möglich,
einen Kurs zu segeln, ohne Ausweichmaßnahmen ergreifen zu müssen.
S hatte völlig Recht, eine Kollision zu erwarten und zu beschließen,
dass nur seine Handlung dies vermeiden kann. Die Frage, ob S die Regel 16.1
oder 16.2 verletzt hat oder nicht, ist irrelevant, da zum Zeitpunkt, als S den
Kurs änderte, P bereits die Regel 10 verletzt hat, und S nun, wie von Regel
14 gefordert, den Kurs ändert, um eine Kollision zu vermeiden. Auch wenn
die Fakten belegen würden, dass S Regel 16.1 oder 16.2 verletzt hätte,
wäre es auf Grund von Regel 64.1(c) entlastet worden.